MULTICHANNEL RETAIL, VERÄNDERTE FLÄCHEN UND ERLEBNISWELTEN – EINZELHANDEL 2020

Ein Interview mit Bettina Zimmermann*, Business Field Manager Retail & Interiors und COO bei Ganter.

 

Dass die Digitalisierung gerade vor dem Einzelhandel nicht haltmacht, ist längst klar. Doch wie genau wirkt sie sich heute bereits im stationären Handel aus und mit welchen Szenarien ist zu rechnen? Betrachten wir uns bald in sprechenden Spiegeln und werden wir in Zukunft von Robotern bedient?
Für den Einzelhandel insgesamt lässt sich diese Frage nicht so einfach beantworten. Je nach Branche und Marktsegment wirkt sich die Digitalisierung unterschiedlich und unterschiedlich intensiv aus. Im Handel generell wird viel Energie darauf verwendet, Kundenfrequenzen und  -verhalten zu messen, Daten zu sammeln und diese Daten für neue Erkenntnisse auszuwerten. Mit sogenannten digitalen Touch Points – Apps für mobile Endgeräte, auch beispielsweise Tablets und Monitore im Store zur „digitalen Regalverlängerung“ – setzt man auf eine starke Interaktion mit dem Endkunden. Mit Click & Collect, also dem Bestellen im Internet und dem lokalen Abholen vor Ort, gelingt es, (Neu-)Kunden in die Verkaufsräume zu holen, möglicherweise weiteren Umsatz zu generieren und die Grenzen von Online- und Offline-Handel aufzuheben. Indem der Endkunde die verschiedenen Verkaufskanäle parallel nutzt, wird er im Idealfall an die Marke oder den Einzelhändler gebunden. Ganz nebenbei gibt er dabei so ziemlich alles an Daten über sich preis, was Aufschluss über seine Vorlieben und Verhaltensweisen gibt. Das hilft dem Händler und der Marke ihren Service sowie ihre Produkte genauer und schneller an die jeweilige Zielgruppe anzupassen – und nicht nur auf der Online- Plattform, sondern im stationären Handel ebenfalls. Auch an Selbstbedienungskassen, die zum Teil bereits in Märkten und großen Sportgeschäften getestet werden, findet eine solche Datenerhebung im Hintergrund statt. Heute schon wundert sich niemand mehr über die individuellen Angebote, die plötzlich im Internet auftauchen, weil etwa am Vortag eine kommerzielle Suchmaschine genutzt wurde, um zu einem neuen Fahrrad zu recherchieren.
Diese Daten von Kunden auch für den stationären Handel sinnvoll zu nutzen, wird in Zukunft eine der großen Herausforderungen. Die kurzzeitig viel beachteten digitalen Spiegel haben sich – soweit ich es beurteilen kann – im Modebereich hingegen nicht durchgesetzt. Die Investitionen sind im Verhältnis zum erwarteten Mehrwert offenbar einfach zu groß. Dafür hat sich insbesondere im Modehandel inzwischen die Erkenntnis verbreitet, dass die persönliche Beratung durch das Storepersonal den entscheidenden Unterschied zum Online-Verkauf ausmacht und dass der stationäre Handel den Vorteil des Beratungsservices verbunden mit einem genau auf die Zielgruppe ausgerichteten Sortiment strategisch und flexibel nutzen muss. Im Lebensmittelbereich gehen die Konzepte noch viel weiter.
Bestellungen über eine App mit anschließender Lieferung nach Hause bieten inzwischen viele Händler an, und Pilotprojekte in den USA zeigen, wo die Reise hingehen könnte: Unterstützt durch sogenannte Beacon-Technik, das internet of things (IoT) und in Lampen integrierte Sensoren, ist es inzwischen beispielsweise möglich, den Kunden im Laden gezielt zu jenen Produkten zu leiten, die auf seinem digitalen Einkaufszettel stehen. Damit ist der physische Weg des Kunden durch den Laden tatsächlich digital gesteuert – und liefert wiederum aufschlussreiche Daten zur Analyse des Kundenverhaltens. Davon, dass es Kassen, wie wir sie heute kennen, schon bald nicht mehr geben wird, bin ich persönlich überzeugt. Die Bezahlung über das Smartphone wird diese vollständig ersetzen. Der Handel ist in allen Segmenten und zwar überall auf der Suche nach den richtigen Formaten.

Welche Trends sind im Einzelhandel neben der Digitalisierung spürbar? Gibt es neue Verkaufskonzepte, vielleicht auch unterschiedliche in Deutschland, Europa oder darüber hinaus?
Tatsächlich ist der Handel in allen Segmenten und zwar überall auf der Suche nach den richtigen Formaten. Da wird sehr vieles auf Probeflächen versucht, wie etwa derzeit in Holland, wo ein neues Mediamarktkonzept getestet wird. War Mediamarkt bisher als anspruchsloser Discounter mit viel Ware und wenig Interaktion bekannt, so soll sich das in Zukunft ändern. Im Prototyp-Konzept werden etwa angebotene Küchengeräte in einem neuerdings integrierten Bistro im Einsatz vorgeführt. Und es stehen bequeme Sofalandschaften zur Verfügung, in denen neue Spielkonsolen ausgiebig auszuprobieren sind.
Ein anderes Format sind die Pop-Up-Stores. Hier wird getestet, ob ein Produkt oder eine Marke in einer neuen Umgebung oder auf einem neuen Markt ankommen, bevor man eine Ladenfläche langfristig anmietet und ausbaut. Für Manolo Blahnik und Louboutin durften wir solche Edel-Pop-Ups im Mittleren Osten bauen.
Die Platzhirsche im Einzelhandel wie Engelhorn oder L&T investieren derzeit viel, um Eventflächen, Gastronomie und Erlebniswelten zu integrieren. Bei L&T, einem Sporthaus in Osnabrück, kommt der Kunde nicht nur in den Genuss des Indoor-Wellenreitens, er kann auch im hauseigenen Fitnessstudio ein Höhentraining simulieren. Ziel solcher Maßnahmen und Angebote ist es, die Verweildauer des Kunden zu verlängern und natürlich auch dessen Kaufsumme zu steigern. Ob das am Ende den Umsatz wirklich zu vermehren vermag, wird sich allerdings erst zeigen. Fest steht hingegen bereits, dass die Bedeutung von Personal, das wirklich in der Lage ist, den Kunden individuell zu beraten und eine Beziehung zu ihm aufzubauen, erheblich gewachsen ist. Darin liegt unübersehbar der Mehrwert gegenüber dem Online-Handel, weshalb weithin in umfassende Ausbildungen und gezielten Personaleinsatz investiert wird. National wie international geht die Expansion der Flächen jedoch langsamer weiter als noch vor fünf Jahren. Der Ausbau von Einkaufszentren hat sich drastisch reduziert, und frei stehende Geschäfte in besten Lagen werden oft umgesiedelt und verkleinert, um Fixkosten zu reduzieren. Sonderfälle stellen dabei sicher die Premiumhäuser der KaDeWe Group in Deutschland und internationale Departmentstores dar, die auf ihren großzügigen Verkaufsflächen Premium- und Luxusmarken eine Inszenierung auf höchstem Niveau ermöglichen: Harrods und Selfridges in London, Galeries Lafayette, Printemps oder Le Bon Marché in Paris, La Rinascente in Rom und de Bijenkorf in Holland etc. – sie verfolgen alle eine ähnliche Strategie und profitieren oft von ihren repräsentativen historischen Gebäuden – architektonische Prachtstücke, die zumal in den touristischen Metropolen für Zustrom sorgen. Gespannt bin ich darauf, welche Strategie die Signa Holding beim Zusammenschluss von Kaufhof und Karstadt verfolgt.
Vielleicht wird hier ein komplett neues urbanes Format entwickelt, mit Verkaufsflächen, Büroräumen und Wohnbereichen in ein und demselben Gebäude zum Beispiel? Und während sich die Mode – wie wir gesehen haben – in den Premiumlagen eher verkleinert, ziehen andere Branchen nun verstärk  in unsere Geschäftsstraßen ein. Autoshowrooms für die neue E-Mobility, Markenshops für Farben wie Craig & Rose eröffnen eigene Läden, IKEA setzt neuerdings auf Präsenz in den Innenstädten und auch Lebensmittel kehren dorthin zurück, gern begleitet von Kochevents und Vergleichbarem. Und selbst die Großen im Online-Handel haben verstanden, dass es heute auf das Verkaufen über verschiedene Kanäle, auf das sogenannte Multichanel Retail, ankommt. Amazon hat aus genau diesem Grund eigene Buchläden eröffnet, und Mr. Spex, ursprünglich ein Online-Optiker, setzt auch auf einen „richtigen“ Laden, in dem der Kunde sämtliche Auswahloptionen, die er von der Website bereits kennt, wiederfindet, mit dem entscheidenden Unterschied, dass er oder auch sie am Ende eine Brille in die Hand nehmen und aufsetzen kann. Für uns als Ladenbauer macht die Tatsache, dass heute gleichzeitig online und offline verkauft wird, zunächst jedoch kaum einen Unterschied in der technischen Herausforderung und Umsetzung.

 


*Ihre Karriere bei Ganter begann die Diplom-Architektin Bettina Zimmermann Ende 2003 als freie Mitarbeiterin und betreute Kunden wie Betty Barclay, Breuninger und Porsche Design. Im Jahr 2005 wechselte sie als Projektleiterin in die Festanstellung und wurde bereits ein Jahr später zur Key Account Managerin ernannt. Im Jahr 2008 übernahm sie die Leitung eines eigenen Bereichs und zeichnete verantwortlich für Schlüsselkunden wie Escada, de Beers, Vertu, Montblanc und andere bekannte Marken. Die 57-Jährige hat diesen wichtigen Geschäftsbereich über Jahre sehr erfolgreich geleitet. Seit 2014 ist sie Mitglied der Geschäftsführung und verantwortet seit 2016 das Geschäftsfeld „Retail & Interiors“ in der Ganter Group.